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Exklusive Leseprobe für alle die gespannt warten aus:

 

Bekehrt

Das Ritual des Chaemwaset

                                                                               

 

Die Kutsche hatte Almahr direkt vor einen der Eingänge der Halle gefahren.

Batists Konstruktion war wirklich ein Meisterwerk der Baukunst. Die dünnen Metallstreben hielten die großen Glasscheiben fest verankert und das Gebäude erweckte den Eindruck, als gäbe es überhaupt gar keine Wände.

Nachdem er es betreten hatte, stellte er überrascht fest, dass seine Maske durchaus Vorteile mit sich brachte. Die Menschen wichen bei seinem Anblick mitleidig zur Seite, sodass er sich ohne Bedrängnis im Kristallpalast bewegen konnte.

Neugierig sah er sich um und folgte einem Schild, das ihm den Weg nach oben wies.

Kurz darauf befand er sich in der gesuchten Ausstellung, die die Schätze des Vorderen Orients präsentierte.

Der Raum erschien aufgrund der durchsichtigen Wände riesig und war mit unzähligen Exponaten gefüllt. Wie sollte er hier nur weitere Informationen zu dem gestohlenen Dolch finden?

Geh systematisch vor, schelte er sich selbst und wandte sich instinktiv nach rechts.

Dort stand eine Vitrine mit Fundstücken aus einer geplünderten Grabkammer und daneben lagen die ehemaligen Bewohner in geöffneten Sarkophagen aufgebahrt. Die braunen Leinenbandagen kräuselten sich wie welke Blätter um ihre vertrockneten Leiber und gaben den ein oder anderen schwarzen Hautfetzen frei.

Almahr überkam bei dem Anblick ein mulmiges Gefühl. Ob er nach dreihundert Jahren in der Gruft wohl auch so ausgesehen hätte? Keine schöne Vorstellung!

Schnell wandte er sich ab, um sich den übrigen Gegenständen zu widmen.

Auf einer kleinen Informationstafel in der nächsten Vitrine konnte er lesen, dass es sich bei diesen Exponaten um Hilfsmittel zur Durchführung von Zeremonien handelte. Oberhalb einer Erklärung zu einem Dolch war der Platz verwaist. Nur ein staubiger Umriss wies darauf hin, dass dieser noch vor Kurzem hier gelegen hatte.

„So weit, so gut, das ging ja überraschend schnell und die Erläuterung zum Dolch passt“, murmelte er vor sich hin.

Sie waren auf der richtigen Fährte, doch alles das brachte ihn kein Stück näher an Bonik heran, geschweige denn an Tao.

Während er überlegte, wem oder was er sich jetzt widmen sollte, drangen aufgeregte Gesprächsfetzen an sein Ohr.

„Dieser Diebstahl ist wirklich skandalös“, konnte er eine dunkle Männerstimme vernehmen. Der starke Akzent, der in der Stimme mitschwang, war schwer verständlich.

„In der Tat, Mr. Mahfuz, in der Tat. Ich selbst bin untröstlich darüber, was hier passiert ist“, antwortete eine weinerliche Stimme.

Almahr drehte den Kopf und erkannte schräg hinter sich zwei Herren, die ein Stück abseits am Geländer standen.

Der linke Mann stammte seiner Hautfarbe und Kopfbedeckung nach zu urteilen aus dem Orient, höchstwahrscheinlich Ägypten.

 

 

Almahr erinnerte sich daran, dass man diesen kleinen runden, aus Filz und einer Quaste bestehenden Hut Fes nannte.

Der andere Mann hingegen war ein typischer englischer Gentleman, dessen gezwirbelter Schnäuzer wie ein aufgeregter Mäuseschwanz zitterte, während er mit seinem Wehklagen fortfuhr: „Bitte glauben sie mir, Scotland Yard arbeitet bereits mit Hochdruck daran, den Täter aufzuspüren und zur Strecke zu bringen. Wir werden alles Erdenkliche unternehmen, um Ihnen ihr Eigentum wieder zu beschaffen. Unversehrt versteht sich!“

Die in tiefe Falten gelegte Stirn des Ägypters zeigte, dass er von diesem Versprechen nicht wirklich viel hielt.

„Das will ich hoffen, Mr. Evans“, er atmete dabei schwer ein und aus, bevor er sarkastisch fortfuhr: „Wenigstens können wir davon ausgehen, dass der Urhügel nicht so einfach mitgenommen werden kann.“

Mr. Evans nickte ergeben: „Das ist wohl wahr! Wir haben allein über fünfzig Mann und zwanzig Pferde gebraucht, um ihn überhaupt an seinen Platz im Park zu bringen.“

Daraufhin griff er in die Innentasche seines Gehrocks, um ein hellblaues Taschentuch hervorzuziehen, tupfte sich die schweißnasse Stirn und sagte dann mehr zu seiner eigenen Bestätigung: „Ein Fels mit solchen Ausmaßen ist wirklich nichts, was man stiehlt.“

Hinter den Sehschlitzen seiner Maske verengte Almahr die Augen. Welch ein glücklicher Zufall. Dieser Mahfuz schien der Besitzer dieser Sammlung zu sein. Er konnte ihm gewiss eine Menge über den Dolch erzählen.

Entschlossen wandte er sich um und sah, wie sich der schwitzende Engländer von seinem Gesprächspartner verabschiedete.

Er wartete, bis der Schnauzbärtige auf der Treppe verschwunden war, dann steuerte er zielstrebig auf den Ägypter zu.

„Guten Abend, Sir.“

Der Herr schaute überrascht auf. Seine dunklen Augen erinnerten Almahr an Opale.

„Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich sie und den Gentleman belauscht hätte, aber mir ist nicht entgangen, worüber sie sich gerade unterhielten. Das ist wirklich eine schlimme Sache“, und er deutete mit seinem Spazierstock auf die Vitrine hinter sich.

Auf dem wettergegerbten Gesicht erschien sogleich Misstrauen: „Sind sie von der Presse?“

Doch Almahr winkte beruhigend ab: „Nein, Nein, das bin ich nicht. Nur ein Mann, der sich fragt, welche Geschichte sich hinter diesem Dolch verbirgt. Wissen sie, ich kam extra von weit her, um die Sammlung zu bewundern und mehr darüber zu erfahren.“

 

 

 

Der harte Zug um Mr. Mahfuz faltigen Mund entspannte sich wieder. Anscheinend musste er in den letzten Tagen viele lästige Fragen zu diesem unrühmlichen Ereignis über sich ergehen lassen.

Erfreut darüber, dass endlich einmal ein echtes Interesse an seinen Exponaten bestand, verzogen sich seine rissigen Lippen zu einem breiten Lächeln: „Also der Dolch, der zu meinem Leidwesen entwendet wurde, wird auch die Hand Atums genannt. Atum war in der Heliopolitanischen Kosmogonie ein Lichtgott, der während seines ersten Erscheinens als personifizierte Sonne das irdische Leben in sich trug.

Ein Urgott, wenn sie so wollen, der aus dem Nichts, dem sogenannten NUN entstieg.“

Als er das neugierige Staunen in Almahrs Gesicht erkannte, kam er erst richtig in Fahrt: „Aus sich selbst heraus, erschuf er durch Abtrennung die beiden Gottheiten Schu, den Gott der Luft und Tefnut, die Göttin des Feuers. Er gilt somit als Vater aller weiteren wichtigen Götter, wie Geb, dem Erdgott oder Nut, der Himmelsgöttin.

Selbst Osiris, Isis, Nephthys und Seth stammen von ihm ab.“

Almahr merkte, wie er bei den ganzen Namen langsam den Faden verlor. Die Geschichte des Orients und ihrer zahlreichen Gottheiten war wirklich interessant, aber auch rasch verwirrend. Daher hob er abwehrend die Hände: „Bitte nicht so schnell. Habe ich das richtig verstanden? Dieser Dolch gehörte dem Sonnengott? Ich dachte immer, das wäre Re gewesen.“

Der fremdländische Mann verbesserte ihn rasch: „Ja, ja, aber Re war in der Heliopolitanischen Kosmogonie die Sonne des Tages und er kam auch erst sehr viel später zur Welt. Vieles wurde zudem von den Wissenschaftlern der westlichen Hemisphäre falsch übersetzt, beziehungsweise gedeutet.“

Er verzog das Gesicht, als ob ihm diese Tatsache körperliche Schmerzen bereitete und entschuldigte sich: „Leider schließt das Gebäude gleich. Die Menge wird schon zu den Ausgängen gebeten. Aber sollten sie weiterhin interessiert sein, dann können wir uns gerne morgen noch einmal treffen.“

Mr. Mahfuz traf wohl nicht allzu oft wissbegierige Zuhörer, auch wenn er ein Gelehrter zu sein schien. Vielleicht sogar ein Gastdozent an einer der berühmten Londoner Universitäten.

Almahr lächelte erfreut: „Gerne nehme ich ihr Angebot an, Mr. Mahfuz. Leider wird es mir aber nur möglich sein, am Abend zu kommen.“

Mr. Mahfuz lachte: „Das ist mir nur recht, da ich erst nach neunzehn Uhr in der Lage bin, mich von meinen Pflichten zu befreien.“

„Dann steht unsere Verabredung?“

Der Mann nickte und deutete eine leichte Verbeugung an: „Es wäre mir ein außerordentliches Vergnügen, Mr. ...?“

Almahr tippte sich an den Hut: „Vincent Calvert, auch mir wäre es eine Freude! Also dann bis morgen Abend. Gleicher Ort würde ich vorschlagen”

 

Der Ägypter stimmte zu und verabschiedete sich von ihm.

Während Mr. Mahfuz dem Westportal zustrebte, ließ sich Almahr mit den letzten Besuchern durch den Haupteingang hinausgeleiten.

Draußen betrachtete er den runden vollen Mond, der wie eine weißgelbe Scheibe am schwarzen Himmel prangte. Die Luft war eisig und die Menschen bemühten sich, möglichst rasch nach Hause zu kommen.

So waren alle Kutschen besetzt und da Almahr keine Lust hatte, sich zu den Wartenden zu gesellen, sah er auf seine Taschenuhr.

Die Nacht war noch jung und die anderen sicherlich noch nicht von ihrem Besuch bei McMillford zurück.

Er schaute sich unschlüssig um und erblickte die Parkanlage hinter dem Palast. Da kam ihm eine Idee.

Erwähnten die beiden Männer nicht gerade einen Urhügel? Wenn er den Gentleman richtig verstanden hatte, handelte es sich dabei um einen Felsen, der ebenfalls zu der ägyptischen Sammlung gehörte. Bestimmt hatte man ihn in diesem Park platziert.

Entschlossen steckte er die Taschenuhr wieder ein. Er hatte ohnehin nichts Besseres vor, da konnte er sich den Stein ja mal anschauen.

Er zog seinen Mantel enger und lief zügig auf den Eingang zu. Dieser wurde von zwei dichten Buchsbaumhecken und einem Rundbogen markiert, hinter dem tiefste Dunkelheit herrschte. Anscheinend hielt man es nicht für nötig, den Kiesweg nachts zu beleuchten.

Ihm konnte das nur recht sein.

Nach und nach passierte er verschiedene prähistorische Kreaturen, die überall entlang des Weges standen. Die unheimlichen Figuren sollten wohl die Besucher des Parks erschrecken, denn noch weitere grässliche Ungetüme aus Stein lagen in einem künstlichen See verstreut, als lauerten sie dort auf Beute.

Für einen Moment blieb er stehen und betrachtete die vom Mondlicht beschienenen grauen Leiber. Sie erinnerten ihn an riesige Krokodile mit verformten Köpfen.

So waren die Menschen schon immer gewesen. Angst und Furcht waren ihr größter Feind und doch taten sie alles Erdenkliche, um diese Gefühle künstlich heraufzubeschwören, um sich dann zu gruseln. Was sollte man dazu nur sagen!?

Er umrundete das Biotop, bis er auf einer kleinen Lichtung auf einen freistehenden Felsbrocken stieß.

Ehrfürchtig legte er den Kopf in den Nacken. Das musste er sein, der Urhügel.

Jetzt verstand er die Worte des Mannes von vorhin. Dieses Monstrum würde man in der Tat nicht so einfach fortschaffen können.

Vor ihm ragte ein gut drei Meter hoher Stein auf, der von oben betrachtet, wie ein riesiger ovaler Tisch aussehen musste, denn die Oberfläche schien komplett flach zu sein.

Im Dunkeln der Nacht wirkte das Gestein wie ein großes schwarzes Loch, das regelrecht alles Licht absorbierte, das sich in seine Richtung verirrte.

 

Fasziniert von diesem Anblick, wollte er schon näher treten, als ihm ein Schatten auffiel, der sich plötzlich über den Rand des Felsens erhob.

Erst glaubte er an ein Trugbild, doch seine aufgerissenen Augen spielten ihm keinen Streich!

Vor dem Licht der großen blassen Mondscheibe stand Thanatos Bonik! Als er zum Himmel emporschaute, umkränzte das lange, silbrig graue Haar seinen kantigen Kopf wie eine Löwenmähne.

Almahr fühlte sich an einen Wolf erinnert, der den Mond anheulen wollte.

„Wie lange noch?“, hörte er mit dunklem Tonfall den Ewaniken ungeduldig fragen.

„Eine Minute, Herr, dann steht Jah in seinem Zenit“, antwortete eine heisere Stimme, die Almahr irgendwie bekannt vorkam, die er aber nicht einordnen konnte.

Erst jetzt bemerkte er den zweiten Schatten, der neben Bonik kauerte.

Anscheinend hatte Sid mit den Ghoulen recht gehabt, denn Thanatos war nicht mehr allein!

Alarmiert schaute er sich um. Vielleicht gab es noch weitere Helfer, die ihren Meister unterstützten.

Vorsichtshalber drückte er sich in das Dickicht eines Haselnussstrauchs. Allein gegen Bonik hätte er schon Schwierigkeiten gehabt, aber mit einer Horde von Dienern konnte er es nicht auch noch aufnehmen. Besser er beobachtet das Ganze erst einmal aus der Distanz.

Aber wie nur? Die dichten Zweige vor seinem Gesicht versperrten ihm die Sicht.

Als er sie behutsam bei Seite drücken wollte, brach ein trockener Ast mit einem lauten Knacken ab.

Erschrocken hielt er inne. Für einige Sekunden war es totenstill, dann stieß Bonik ein unmenschliches Gebrüll aus: „Vincent Calvers!“

Almahr spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Er hatte vollkommen vergessen, wie gut der Ewanik riechen konnte. Dieser Sinn war bei ihm ungewöhnlich scharf ausgeprägt.

In New York hatte ihm diese Fähigkeit von Bonik auf der Suche nach Alice noch geholfen, jetzt aber wurde sie ihm zum Verhängnis! Bestimmt hatte der Ewanik längst gewittert, dass er alleine war.

Wie aufs Stichwort hörte er ihn verkünden: „Kümmere du dich um das Ritual, ihr anderen folgt mir! Wir werden uns diesen lästigen Wurm vom Hals schaffen!“

Damit stürzte er sich mit einem gewaltigen Satz vom Felsen.

Almahr hatte keine Zeit, um festzustellen, wie viele Ghoule Bonik befehligte, denn er hatte nur noch einen Gedanken. Er musste weg und dass so schnell wie möglich!

Er hastete aus seinem Versteck und gab Fersengeld. Er rannte mitten in ein dichtes Wäldchen hinein, das zu seiner Linken lag.

Äste und Zweige peitschten ihm ins Gesicht, als er über eine abgestorbene Baumwurzel sprang.

 

 

Sein Hut rutschte ihm vor die Augen und er riss ihn sich wütend vom Kopf. Warum musste ihm das passieren! Bonik war ihm in dieser Situation haushoch überlegen! Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ihn eingeholt hatte und dann!

Er hielt den Spazierstock fest umklammert, aber mit der lächerlichen Klinge würde er den Vampir und seine monströsen Klauen nicht lange in Schach halten können. Und wenn ihm auch noch ein Ghoul zu Hilfe eilte, dann gute Nacht!

Er spürte, wie sich sein Mantel in einer verdorrten Brombeerhecke verfing.

Fluchend versuchte er sich zu befreien. Er musste sich schleunigst etwas einfallen lassen!

Plötzlich krachte es hinter ihm. Morsches Holz zersplitterte, begleitet von wildem Schnaufen und Knurren.

Alarmiert drehte er sich um. Eine Woge von Moschus stieß ihm in die Nase.

Seine Nackenhaare schnellten augenblicklich in die Höhe. Es waren nur noch wenige Meter!

Panisch wandte er sich wieder nach vorn. Sofern ihn seine anderen Sinne nicht im Stich ließen, befanden sich vor ihm die ersten Hinterhöfe des angrenzenden Stadtbezirks.

Seine einzige Chance!

Aber er würde es nicht schaffen, wenn es ihm nicht gelang, Bonik irgendwie von sich abzulenken.

Plötzlich bemerkte er, dass er noch den Hut in den Händen hielt, und ein Geistesblitz durchfuhr ihn.

Er drehte das Stück Filz herum, während er sich in das Handgelenk biss.

Blut tropfte und landete im Inneren der Krempe.

Hinter seinem Rücken wurden die unheilvollen Geräusche immer lauter. Es galt jetzt keine Zeit mehr zu verlieren!

Er warf den Hut wie eine Diskusscheibe nach links und schlug sich lautlos nach rechts in die Büsche.


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Das Ritual des Caemwaset, Vampirbuch,
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